Fabian Saul: Die Trauer der Tangente

Dass der Autor auch Musiker ist wird schon klar, dass es statt Prolog und Epilog hier ein Prelude und eine Coda gibt. Die Kapitel im Hauptteil sind aufgeteilt in Wochentage, denen jeweils ein Zitat voransteht.

12 Tage erzählte Zeit, beginnend mit dem Tod eines Freundes bis zu dessen Beerdigung. Es wird kein fortlaufender Plot erzählt. Vielmehr ist aus unterschiedlich kurzen Sequenzen ein hochpoetisches Gespinst aus Erinnerungen, Träumen, Dialogen und Phantasiebildern entstanden, das aus Anlass dieses Todes vom Erzähler gewoben wird. Sie haben sich geliebt, eine komplizierte Beziehung. Berlin, Paris, Marseille, Nida und Bratislava sind einige der Orte, die ihre gemeinsame Geschichte widerspiegeln. Wiederholt taucht die Formulierung auf: „Aber versuchen wir einen anderen Anfang. Er geht so:“, wobei Variationen ihrer gemeinsamen Zeit gedanklich durchgespielt werden. Gegen Schluss heißt es: „Aber versuchen wir ein anderes Ende. Es geht so:“. Was hätte sein können, wenn…
Fasziniert haben mich die unheimlich vielen literarischen Verweise, die ich teilweise mit Bleistift vorne im Buch notiert habe. Vor allem Jean Genet und die große brasilianische Schriftstellerin Clarice Lispector tauchen immer wieder auf. Aber auch Musiker*innen wie Nina Simone oder Björk. In Kleindruck stehen alle diese Namen am Rand des Textes. So entstand eine großartige Kultur- und Literaturgeschichte. Aber das Buch beschränkt sich nicht auf Schöngeistigkeit.
Während die Freunde beispielsweise im Trocadéro in Paris sitzen, gehen die Gedanken zu den Gräueln der Geschichte. Sehr klar und anklagend wird der Finger in die Wunden der historischen Vergangenheit gelegt. Da werden beispielsweise die Kolonialgeschichte in ihrer Grausamkeit und die katastrophalen Folgen ebenso angeprangert wie das unmenschliche Wüten der Nationalsozialisten gegen Juden, Intellektuelle und ihre politischen Gegner.
Ein ungewöhnliches Buch, das mich sehr fasziniert hat, das aber nicht geeignet ist für die Viertelstunde vor dem Einschlafen. Dieses Buch verdient es, mit wachen Sinnen gelesen zu werden.
Selbst gekauft im Buchhandel.

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