DIESEM Buch hätte ich gerne den Deutschen Buchpreis 2024 zuerkannt. Es ist ein leises Buch und vielleicht deshalb für viele Leser*innen nicht auf den ersten Blick attrakti, aber es ist ein Buch, das jede Menge Sprengstoff enthält. Schon auf der ersten Seite rollt der Donner und verhallt, ein erstes Zeichen, dass die anschließende Beschreibung der Heidelandschaft und des Schäferberufs kein Idyll aus dem 19. Jahrhundert ist.
Jannes ist 19 Jahre alt und in dritter Generation Schäfer. Es ist ein Beruf, den er gerne ausübt, weil er es liebt, mit den Tieren draußen in der Heidelandschaft zu sein. Schon sein Großvater und seine beiden Eltern sind mit der Herde losgezogen, um die Heidelandschaft zu pflegen. Nun soll er den Hof übernehmen, zumal sein Vater zunehmend dement wird.
Aber die Ruhe ist gestört: Der Wolf ist zurück in der Lüneburger Heide. Zwar hat ihn keiner im Dorf gesehen, und es gab bei ihnen noch keine Risse, aber die Volksseele kocht hoch. Jannes Großvater ist für Abschießen, der Vater freundet sich mit einem völkisch denkenden neuen Nachbarn an. Gemeinsam gründen sie die an Selbstjustiz denkenden „Wolfsangeln“, Osterfeuer werden veranstaltet und des antisemitischen Heidedichters Hermann Löns wird wieder mit Sympathie gedacht.
Aber da gibt es noch etwas, das den einsamen, jungen Schäfer beunruhigt. Wiederholt erscheint ihm gespensterhaft eine Frauenfigur, während er die Schafe weidet. Und seine demente Großmutter wiederholt ständig einen bestimmten Frauennamen. Als Jannes tiefer in diese Geschichte eindringt, entdeckt er die langen Schatten der Nazivergangenheit, gab es doch in unmittelbarer Nähe ein Außenlager des KZs Bergen-Belsen….
Was seine Familie damit zu tun hat, wie der Umgang mit Geschichte, Verschweigen, Verdrängen und Schuld das Leben eines Menschen und einer Dorfgemeinschaft prägt, das hat Thielemann unaufdringlich aber höchst eindrücklich beschrieben. Mit feinen Sprachbildern dekonstruiert er den typischen Heimatroman – „Alle Geräusche sind gedämpft, geisterhaft sinkt das Gurren verborgener Kranichzüge aus der Höhe“ – ohne zu ideologisieren. Es ist ein Roman, der die Spannung zwischen Tradition und Moderne ebenso zum Thema hat, wie die Suche eines jungen Mannes nach seinem Platz im Leben.