Ásta Sigurðurdóttirs Leben war wie eine ihrer Erzählungen: Chaotisch, dramatisch, prekär, eine Randfigur der Gesellschaft.

1930 auf einem abgelegenen Bauernhof in Westisland geboren, wuchs sie unter einfachsten, ärmlichen Bedingungen auf. Es gab in dem Torfhaus weder fließendes Wasser noch Strom. Durch die Mutter lernt sie die alten Sagen und Lieder kennen, Naturgeister und übernatürliche Erscheinungen.
Bereits als Vierzehnjährige geht sie nach Reykjavik, arbeitet und macht Abitur. 1950 beginnt sie eine Lehrerausbildung. Doch als Lehrerin arbeitet Ásta nicht. Sie kleidet sich auffallend, schminkt sich wie Kleopatra, wird Teil der Bohémien-Szene.
Künstlerisch ist sie vielfältig begabt. Sie schreibt nicht nur Gedichte und Erzählungen, sie malt auch, macht kubistische Holz-und Linolschnitte und besitzt die besondere Fähigkeit, Töne als Farben und Muster wahrzunehmen.
Doch ihr Privatleben bekommt sie nicht in den Griff. Ein uneheliches Kind zieht ihre Mutter auf, ein weiteres treibt sie ab. Sie trinkt, arbeitet als Aktmodell und heiratet mit 27 Jahren den 19 Jahre alten Dichter Þorsteinn frá Hamri, mit dem sie fünf Kinder hat, die jedoch zu Pflegefamilien kamen, da sie wegen zunehmender Trunksucht den Alltag nicht bewältigen konnte. Nach der Trennung von Þorsteinn heiratete sie ein weiteres Mal, starb jedoch alkoholkrank mit nur 41 Jahren.
13 Erzählungen enthält der schön gestaltete Band aus dem @guggolzverlag. Die Protagonist*innen sind allesamt Figuren vom Rande der Gesellschaft: Alkoholiker und Tagediebinnen, junge Frauen, die zu ihrem sexuellen Begehren stehen, psychisch und physisch gequälte Kinder., allesamt kaputte Existenzen.
Die Geschichten sind schonungslos, erschütternd, radikal, dabei sprachlich brilliant und von großer Präzision. Nicht umsonst galt Ásta Sigurðurdóttir als großes Talent. Doch sie sorgten bei ihrem Erscheinen für Aufsehen und große Aufregung, denn die Autorin bricht jedes Tabu, kein menschlicher Abgrund ist ihr fremd. Die 50er Jahre waren sehr konservativ, wollten Ruhe und Beschaulichkeit. Einen solchen Spiegel wollte die isländische Gesellschaft nicht vorgehalten bekommen.
In der ersten Erzählung „Sonntagabend bis Montagmorgen“ wird die Ich-Erzählerin bei einer Party vom Hausherrn rausgeworfen, nachdem sie sich unmöglich benommen hat, indem sie einen anderen Gast an den Haaren riss und mit ihm kämpfte.
„Ich sah aus wie ein Flittchen und starrte alle Männer begehrlich an, musste mich am Stuhl festkrallen, um mich ihnen nicht an den Hals zu werfen.“
Volltrunken stakst sie durch das nächtliche Reykjavik, entkommt mit Mühe einer Vergewaltigung und wird in den frühen Morgenstunden von einem gutmütigen Bauarbeiter aufgelesen. Er gibt ihr Kaffee und etwas zu essen. Dazu noch eine Zigarette. Und schon ist sie wieder imstande, Positives im Leben zu entdecken.
Regelrecht herzzerreißend ist „Eine Tiergeschichte“. Ein gefühlloser Mann setzt seine fast 7-jährige Stieftochter einem regelrechten Psychoterror aus. Er zeigt ihr immer wieder Bilder eines süßen kleinen Tieres, das wehrlos ist gegen das große böse Tier, das kommen und es fangen wird, das es töten wird, nachdem das große Tier das kleine lange gequält hat. Er beschreibt detailliert die Qualen.
Das Kind leidet entsetzlich, identifiziert sich mit dem kleinen Tier. Wenn die Mutter ihn bittet, der Kleinen nicht so brutale Geschichten zu erzählen, schlägt er sie furchtbar, weil er meint, sie leiste ihm Widerstand und er sei nicht Herr im Haus. Als das Kind auf seine Weise versucht, das kleine Ter zu retten, schlägt und tritt er es mit äußerster Brutalität, bis er Angst bekommt, er hätte es getötet. Eine grauenvolle Geschichte, die einen nicht loslässt, nach der ich eine Lesepause brauchte. Die Erzählung trifft aber auf den Punkt den Zusammenhang von Herrschaftsphantasien und Gewalt. Das ist großartig dargestellt.
Ein absolut lesenswertes Buch, zumal die Übersetzerin Tina Flecken alle sprachlichen Feinheiten hervorragend ins Deutsche übertragen hat.