Lust

„Wie wird man zum Schriftsteller? Ist es möglich, das Schreiben zum Beruf zu machen? Kann man davon leben? Und was für ein Leben kann das wohl sein? Ja, kann das Schreiben einen retten?

In seinem jüngsten Roman verwebt Tomas Espedal Leben und Literatur – Autobiografie und Bildungsroman – auf bezwingende Weise. Der Doppeldeutigkeit des Titels wird er dabei auf mehr als eine Weise gerecht: „Lust“ ist ein Roman über das Lesen und das Schreiben. Über das Vergessen und das Erinnern. Über Reisen und Liebesaffären. Über die Bedeutung des Ortes für das Schreiben. Über Städte, Kopenhagen, Bergen, Oslo, Paris und Rom, und das Leben der Schriftsteller. Über das Schreiben in der Nacht, über das betrunkene Schreiben und das nüchterne Schreiben. Über das Durchboxen. Und das Schreiben mit der Hand. Über Freundschaften, auch denen zu anderen Autoren. Über den Tod. Und sogar über Geld.“ (Klappentext)

Was ist Autobiografie, was Roman? mag man sich fragen. S. 71 gibt der Autor eine erste Antwort: “[…] man erdichtet in hohem Maße seine Erinnerung und Vergangenheit, und so muss es sein, man erschafft sich die Vergangenheit, die man braucht, um zu erklären, wer man geworden ist und warum.“ Und auf S. 236 heißt es: „Das Schreiben ist ein paralleles Erinnern, du schreibst, woran du dich erinnerst, aber du folgst auch den Gesetzen und der Logik der Literatur; du erdichtest immer dein eigenes Leben. Ganz egal, wie du erzählst, wie du schreibst, so wird das, was du erzählst, von Dichtung wie von Wahrheit geprägt sein.“

Tomas Espedal schont sich dabei nicht. Wie schon in früheren Büchern, beschreibt er seine Herkunft aus dem Arbeitermilieu, aber auch die Angst, Panikattacken, die ihn von Kindheit an verfolgten. Er beschreibt das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter, einer harten, fordernden Frau, seine Boxkämpfe mit dem Vater.

Erst mit 17 Jahren beginnt er zu lesen. Thomas Manns Erzählung „Der Tod in Venedig“ wird zu einem Erweckungserlebnis. Fortan wird er immer lesen, während des Militärdienstes, während des Schreibens. Rilke, Proust, Baudelaire, Rimbaud, Marguerite Duras, Herta Müller…

Er entzieht sich den Erwartungen des Elternhauses, flieht nach Oslo, zu Studien nach Kopenhagen zusammen mit dem Freund Robert, der an der Kunst zugrunde gehen wird. Immer wieder gerät Tomas Espedal auf Irrwege, erleidet er Niederlagen, gibt es Schreibblockaden. Mühsam lernt er zu schreiben, das Lektorieren seiner Manuskripte zu ertragen. Aber er weiß, was er will. Er will Schriftsteller sein, vom Schreiben leben. Und er weiß, was er nicht will: Eine sogenannte gesicherte Existenz im spießigen Bergen mit Haus, Auto und Familienleben.

Schreiben gelingt diesem sensiblen Menschen am besten in einer geradezu mönchischen Umgebung. Ein kleines Zimmer, vielleicht in einem einfachen Hotel, der Schreibtisch vor dem Fenster, ein Stuhl, ein Bett. Kein teures Papier, keine edlen Stifte. So entstand „Lust“, das Buch über 40 Jahre eigenen Schreibens und Lesens, geschrieben in einer hinreißend schönen, klangvollen, ja virtuosen Sprache, von Hinrich Schmidt-Henkel wieder kongenial ins Deutsche übersetzt.

Mich als Leserin hat ein Satz besonders angesprochen: „Lesen als Trost, als Überlebenshilfe, das wird in einer Zeit unterschätzt, in der die meisten um der Unterhaltung willen lesen.“ S. 228. Ein sehr menschliches Buch, ein Buch über den schweren Weg zur Kunst und als Künstler. Sehr, sehr lesenswert! – Erschienen 2025 bei Matthes & Seitz, Berlin.

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