
Mariette Navarros erster Roman „Über die See“ hat mich schon durch seine bilderreiche, poetische Sprache beeindruckt, mit der besondere, psychisch belastende Situationen beschrieben werden.
So auch in „Am Grund des Himmels“.
Die Ich-Erzählerin Claire hat in einem nicht genannten Ort und einem ebenfalls nicht näher beschriebenen Konzern Karriere gemacht. Glaspalast ist der Titel des französischen Originals. Das gibt einen Hinweis auf das Aussehen der Konzernzentrale und darauf, dass es verschiedene Etagen gibt. In welcher man arbeitet, sagt etwas über den Platz in der Hierarchie aus.
Aber Claire hat genug. Sie war sehr stolz, als Mädchen vom Lande und aus einfachen Verhältnissen stammend, beruflich dermaßen erfolgreich zu sein. Um das zu erreichen, musste sie sich ständig verbiegen, musste Mimik, Gestik und Sprache ihrer Umgebung anpassen, entsprechende Kleidung tragen, die starren Strukturen und Abläufe beachten und befolgen, gehörte aber letztlich doch nicht zum innersten Kern, wie sie nun mit Bitterkeit erkannt hat.
Mitten in einer Besprechung steht sie kommentarlos auf und verlässt den Raum.
Sie steigt durch eine Luke aufs Dach des Glaspalastes. Das ist als Metapher zu verstehen. Claire steigt aus. Und niemand scheint sie zu vermissen.
Ein Sturm bricht los, tatsächlich und auch wieder metaphorisch zu lesen in Bezug auf Claires Leben. Durch die Naturgewalt spürt sie zum ersten Mal seit langer Zeit ihren Körper wieder. Sie stellt fest, dass die Dachluke zugefallen ist, dass sie also auf dem Dach bleiben muss. Sie hält der Naturgewalt den restlichen Tag und die Nacht über stand und entschließt sich, sich einen Weg raus aus dem Druck in die Freiheit zu suchen.
Am nächsten Morgen gelingt Claire, nass und durchgefroren, das Öffnen der Luke. Sie geht durch die seltsamerweise leeren Büroräume. Auf dem Schreibtisch ihres Chefs findet sie eine Notiz, auf der sie als „naiv und provinziell“ beschrieben wird. Sie explodiert förmlich vor Wut über diese Diskriminierung auf Grund ihrer Herkunft…
„Am Grund des Himmels“ ist ein schmaler Roman, bildstark und poetisch in der Sprache, eine Geschichte, die die Dramatik des Innenlebens der Protagonistin im Fokus hat, die Geschichte einer Loslösung. Claire hat den Glauben an das, was sie beruflich tat, völlig verloren. Sie ist auf dem Weg nach Sinnsuche und Sinnfindung.
Ein Buch, das einen nicht so schnell loslässt sondern einen Anstoß zu eigenen Reflexionen gibt. Sehr empfehlenswert!
Mariette Navarro: Am Grund des Himmels, Verlag Antje Kunstmann, 2025