Aller Tage Abend

Jenny Erpenbeck legt mit „Aller Tage Abend“ einen eindrucksvollen, poetisch verdichteten Roman vor, der sich mit nichts Geringerem beschäftigt als der Fragilität des Lebens selbst. Ich hatte das Taschenbuch beim Flohmarkt meiner Buchhandlung gefunden, aber es lag – leider !! – lange ungelesen, ja, fast vergessen auf einem noch zu lesenden Bücherstapel.

Das Buch erzählt nicht nur eine Biografie – es erzählt fünf mögliche Biografien, fünf mögliche Verläufe eines einzigen Frauenlebens, das, wie alle Leben, jederzeit durch Zufall, Entscheidung, politische Geschichte oder familiäre Umstände eine andere Richtung nehmen könnte.

Die zentrale erzählerische Konstruktion ist so schlicht wie genial: Die Protagonistin stirbt – und dann stirbt sie nicht.

Nach jedem Kapitel, in dem ihr Leben ein aprubtes Ende findet, folgt ein Zwischenraum, in dem erklärt wird, wie ein minimaler Unterschied diesen Tod hätte verhindern können.

Danach setzt die Handlung mit einer alternativen Lebenslinie fort. Das „Was wäre, wenn!“ ist hier keine Spielerei, sondern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Kräften, die Lebenswege formen:

Armut, Politik, familiäre Gewalt, historische Umbrüche, Flucht, Liebe und Verlust.

Die Sprache ist ruhig, präzise und musikalisch. Einerseits findet sich dokumentarische Nüchternheit, andererseits lyrisch eindringliche Passagen, die sich aber vermischen. Erpenbeck verbindet Intimität und historische Weite auf eine Art, die selten gelingt:

Ein individuelles Schicksal verbindet sich mit dem Untergang des Habsburgerreichs, dem Aufstieg des Nationalsozialismus, dem Alltag in der DDR und deren Zerfall.

Es fragt sich beim Lesen, wie schnell das Leben kippen kann und wie wenig man oft selbst zu steuern vermag.

Erpenbeck zeigt eindrucksvoll, wie politische Systeme in die Lebensgeschichte von Menschen einwirkt. Sie zeigt das, ohne zu moralisieren.

Und sie fragt mit ihrem Roman, wer man ist, wenn man genau so gut jemand ganz anderer hätte sein können.

„Aller Tage Abend“ ist ein lange nachhhallender Roman, der einem verdeutlicht, dass jedes Leben aus sehr vielen Abzweigungen besteht, dass hinter jeder Entscheidung eine Geschichte liegt, deren Ende ganz anders aussehen könnte.

Damit ist der Autorin ein tief berührender, philosophischer Roman gelungen, der trotz aller Geschichtsträchtigkeit doch sehr persönlich bleibt.

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