
Ben Shattuck ist nicht nur ein preisgekrönter Autor und Dozent für kreatives Schreiben. Er betreibt auch den ältesten, kontinuierlich betriebenen Gemischtwarenladen Amerikas aus dem Jahr 1793, Davolls General Store an der Küste von Massachusetts.
Sein zweites Buch, The History of Sound (Die Geschichte des Klangs), enthält im Original acht Geschichten, von denen jeweils zwei zusammengehören. Der Hanser-Verlag hat die erste und die letzte Geschichte ausgewählt, sodass ein schmales Bändchen von ca. hundert Seiten entstanden ist, das von Dirk van Gunsteren wie immer hervorragend übersetzt wurde.
Leise und berührend wird die Liebesgeschichte von Lionel und David erzählt, zwei Studenten, die sich kurz vor dem 1. Weltkrieg kennenlernen. David studiert Musik, der Ich-Erzähler Lionel Gesang.
Im April 1984 erhält Lionel, der Bücher zur folkloristischen Musikgeschichte geschrieben hat, ein Paket mit Wachswalzen für Phonographen. Es sind die Walzen, auf denen er mit David im Sommer 1916 im Osten der USA Volkslieder sammelte. Es war der Sommer ihrer kurzen Liebe, die sich für beide als die einzig große, die wichtigste erweisen sollte. Mit dem Paket kommen die Erinnerungen an damals, kommt die Frage, ob eine kurze, heftige und intensive Liebe mehr wert ist als ein in Jahren gelebte, erfüllte Liebe. Kommt auch die Frage nach den verpassten Lebensmöglichkeiten.
Denn die Verbindung reißt aus unerklärlichen Gründen ab, David stirbt in jungen Jahren.
In der zweiten Geschichte liest man, wie die Wachsrollen gefunden und zu Lionel geschickt wurden. Die Biologin Annie hat ihr Studium zugunsten von Ehe und Ehemann aufgegeben. In einer Universitätsstadt haben sie ein großes Haus gekauft, in dem die Vorbesitzerin das gesamte Inventar zurückließ. Annie verbringt ihre Tage nun mit Aus- und Aufräumen, ist aber nicht richtig glücklich. Welche Lebenschancen hat sie verpasst?
Durch Zufall entdeckt sie beim Räumen die Wachsrollen. Durch Zufall sieht sie Lionel im Fernsehen bei einem Interview. So kommen die Wachsrollen schließlich zu Lionel. Der Kreis schließt sich.
Mit ruhiger, unprätentiöser Sprache wird hier erzählt, sehr harmonisch, manchmal etwas zu harmonisch, aber nie kitschig.
Ein bewegendes, lange nachklingendes Buch, das wegen seiner existentiellen Fragen zu Reflexionen über das eigene gelebte und ungelebte Leben führt. Absolut empfehlenswert!
Jammerschade nur, dass ein so gutes Buch aus dem einen KI-generierten Umschlag hat!