Eine Zeit, zu leben

Jan Kjærstad zählt zu den bedeutendsten zeitgenössische Autoren Norwegens. Er wurde 1953 in Oslo geboren und studierte Theologie. Direkt nach dem Studium begann er zu schreiben, arbeitete aber parallel als Pastor, Jazzpianist und Redakteur der norwegischen Literaturzeitschrift „Vinduet“.  Er lebt in Oslo, wo auch der Roman „Eine Zeit, zu leben“ spielt.

Leider ist Kjærstad leider hier nicht so bekannt, auch konnte ich auf der Leipziger Buchmesse keine Veranstaltung mit ihm entdecken – Norwegen war Gastland – denn es lohnt sich sehr, seine Bücher zu lesen. Er hat eine ganz eigene Art des Erzählens, sodass in seinem Heimatland sein Name auch als Adjektiv gebraucht wird. „Eine Zeit, zu leben“ gilt als sehr „kjærstadisch“.

Am Nationaltheater in Oslo findet der Premierenabend von Ibsens Schauspiel Hedda Gabler statt. Sogar die Ministerpräsidentin ist gekommen und sitzt mit ihrer Entourage in der ersten Reihe. Die Hauptrolle spielt die gutaussehende und beliebte Hedda Christine Foss, die auch das Zentrum des Romans bildet. Die Rolle des Assessor Brack hat ihr (ehemaliger) Geliebter, Henrik Adler.    

Im Theaterstück hat Hedda Gabler, eine Frau, die Schönheit, Lust und das Absolute sucht, aber in ihrem Leben nicht finden kann, den eher langweiligen und beruflich nicht sehr erfolgreichen Kunsthistoriker Jörgen Tesman geheirat. Dessen Berufung auf eine Professur scheint durch den genialen Kollegen Lövborg gefährdet zu sein. Lövborg, von Hedda abgewiesen, ergab sich dem Alkohol, konnte aber mit Unterstützung von Thea Elvsted, Tesmans ehemaliger Geliebter, sein Manuskript beenden.

Assessor Brack, auch er ein Verehrer Heddas, berichtet Tesman von dem fertigen Manuskript.

Hedda veranlasst Lövborg bei einem Besuch, wieder zu trinken, wobei dieser sein Manuskript verliert. Tesman findet es und gibt es Hedda zur Aufbewahrung. Die verbrennt es, nachdem sie dem zerknirschten Lövborg den Revolver ihres Vaters gegeben hat, damit er sich auf ehrenvolle Weise töten könne.

Assessor Brack überbringt ihr auch die Nachricht vom Tod Lövborgs, sagt ihr aber auch, dass er wisse, woher der seine Waffe hatte. Er werde sie nicht verraten, solange sie seine Wünsche erfülle. Hedda kann den Gedanken nicht ertragen, dass ein anderer Mensch Macht über sie ausübt. Sie erschießt sich mit einer der Pistolen ihres Vaters.

Der Roman ist streng aber genial aufgebaut. Der Autor lässt neun Personen zu Wort kommen, die sich die Premiere anschauen. Sie sind unterschiedlichen Alters und haben ganz unterschiedliche Berufe, Erfahrungen, Schicksale.  Zwei Personen gehören nicht zu den Anwesenden. Zum einen die Doktorandin Merete Sand, die an einer Dissertation über „Hedda Gabler“ schreibt, zum anderen der Schauspieler Henrik Adler, der ja an diesem Abend auf der Bühne steht. Jedes Personenkapitel, jeweils in der 3. Person erzählt, endet mit einer längeren Passage, in der die Ich-Erzählerin Hedda Christine Foss von den Proben zur Inszenierung erzählt, aber auch über den Plan des lebensmüden Henriks, dessen erfolgreichste Jahre vorbei sind, dem Schuss am Schluss eine andere Richtung zu geben. Auf ihn? Auf sie beide? Das sei nicht verraten.

Im ersten Kapitel liest man über die Angst Eystein Laudals, eines jungen Norwegisch-Lehrers, dass seine intime Annäherung an eine Schülerin publik wird. Felix Boger ist da, ein Autor mit Schreibblockade, der aber durch einen Literaturpreis plötzlich in den Zeitungen steht. Die Influencerin Stine Franzen begegnet den Lesenden ebenso wie Edward Hart, ein britischer Diplomat, Der Polizeianwärter Markus Hansen fühlt sich völlig fehl am Platz, ist aber wegen eines ihm wichtigen Dates Premierenbesucher. Dann sind da noch der gefürchtete Kritiker, Paal Løchen, der um seine Tochter trauernde Frans Ottensen, die syrische Altenpflegerin Samah Ayoub sowie Rakel Borg, die Tochter eines Ideenhistorikers, die gegen Paal Løchen protestieren wird, weil er eine Depression ihres Vaters ausgelöst hat.

Das letzte Beispiel zeigt schon, dass es Verbindungen zwischen den Premierenbesuchern gibt. Das ist phantastisch komponiert und eindrucksvoll geschildert. Dazu kommt, dass jede dieser Personen in einem besonderen Moment eine Entscheidung mit lebensverändernden Folgen trifft.

Henrik Adler hat, wie gesagt, bereits eine Entscheidung getroffen und mit seiner Partnerin Hedda einen abgefeimten Plan geschmiedet. Ob Hedda, der die Ausführung des Plans zukommt, dies tut, ist die große Frage. Wie steht sie überhaupt dazu? Wie erlebt sie den Premierenabend? Was denkt sie, fühlt sie? Das zu lesen ist sehr spannend, ist „kjærstadisch“.

Jan Kjærstad kann Spannung, aber er kann noch viel mehr: „Eine Zeit, zu leben“ ist ein komplexer Roman, in dem es um Liebe und Verrat, Verlust und Trauer, Schicksalsschläge, Entscheidung und nicht zuletzt um die Rolle des Theaters geht. Was für ein Roman!

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